Nermina Šerifović
Zwischen Zerfall und Umbruch, Künstlerische Selbstorganisationen in Sarajevo

Unter welchen Rahmenbedingungen findet vermittlerische und kuratorische Kunstpraxis in Sarajevo statt und wie werden diese von den Akteur*innen in diesem Bereich erlebt?

Sarajevo als Hauptstadt und Kulturzentrum Bosniens bildete den optimalen Ausgangsort, um mehr über die zeitgenössische Kunst und ihre Bedingungen zu erfahren. Anfang März 2020 begab ich mich auf eine Forschungsreise nach Sarajevo, um dieser Frage nachzugehen. Mit einem künstlerisch-forschenden Ansatz dokumentierte ich meine Eindrücke vor Ort in Form von Fotos, Videos, Audioaufnahmen und Tagebucheinträgen. Den Fokus der Arbeit bilden Interviews, die mit fünf jungen Kulturschaffenden geführt wurden, welche sich ehrenamtlich in Selbstorganisationen für die junge, zeitgenössische Kunst engagieren. Die Ergebnisse sind in eine umfangreiche Publikation geflossen, welche die Aussagen der interviewten Personen in den historischen und aktuellen Kontext Sarajevos setzt und mit meinen Beobachtungen auf die Stadt vereint.

MA Art Education

Kunstgattung: Künstlerische Forschung
Medium: Publikation
Materialität: Offsetdruck
Masse: A4
Ort: Sarajevo

Mentorat Praxis:
Jacqueline Baum
Mentorat Theorie:
Priska Gisler

E-mail


Theoretische Thesis

Motivation
Mein Interesse, mich mit Bosnien und Herzegowina zu beschäftigen, kommt von meinen Wurzeln. Meine Eltern sind 1992, zu Beginn des Bosnienkriegs (1992–1995) in die Schweiz gekommen. Den Ausschlaggeber für die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kunst Sarajevos bildeten meine möglicherweise lückenhaften Kenntnisse über die Kunstgeschichte und zeitgenössische Kunst Bosniens, über die ich mehr erfahren wollte.

Begriff Selbstorganisation
Mit dem Begriff «Selbstorganisationen» werden in dieser Arbeit unabhängige, nicht-staatliche, nicht-kommerzielle, nicht-profit-orientierte Kunstinitiativen von ehrenamtlichen jungen Kulturschaffenden bezeichnet. Bei den hier erforschten Organisationen handelt es sich um Kollektive, Kunst- und Kulturprojekte sowie um eine Galerie.

Tagebuch 01.03.2020
Die unberührte Natur im Gebirge Olovos reisst mich in den Bann. Ich bin überwältigt von dieser Schönheit und überrascht von der Ähnlichkeit zur Schweiz: Hätte mich jemand hier ausgesetzt, hätte ich gemeint, ich hielte mich in den Schweizer Bergen auf.

Methode
Die Ethnographie ist die grundlegende Forschungsmethode dieser Arbeit. Die Feldforschung vor Ort sowie eine 4-tägige Reise in Sarajevo Anfang März 2020 bildeten die Ausgangslage. Als Basis für die Theorie dienten die Erkenntnisse, die ich in den Interviews gewonnen habe. Parallel dazu dokumentierte ich mithilfe einer teilnehmenden Beobachtung die persönlichen Eindrücke in Form von Fotografien, Videos, Audioaufnahmen, Notizen und Tagebucheinträgen. Die Interpretation der Interviews erfolgte durch eine qualitative Analyse mit Grounded Theory.

Meine Rolle
Mir ist bewusst, dass eine ethnographische Studie stark geprägt ist vom subjektiven Blick und ich möchte diesen als Forscherin mitbedenken. Die Interpretation der Ergebnisse, wie sie in dieser Abhandlung vorliegen, spiegelt meinen spezifischen Zugang zu Sarajevo bzw. Bosnien und ist nicht vernachlässigbar. Ich bin zwar in der Schweiz geboren, wurde jedoch von meinen Eltern «bosnisch» erzogen. Vor dieser Forschungsreise war mein Blick auf Bosnien stark von der ländlichen Perspektive von Humci, dem provinziellen Heimatdorf meiner Eltern, geprägt. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land wurden mir auf dieser Forschungsreise umso deutlicher vor Augen geführt: Immer wieder musste ich meine anfänglichen Erwartungen und Vorstellungen revidieren. Mir wurde klar, wie stark meine Sicht auf Sarajevo – und Bosnien allgemein – durch Stereotypisierungen und Generalisierungen geprägt war.

Kulturhistorische Hintergründe
Die Kulturgeschichte Bosniens kennzeichnet sich durch eine grosse Diversität. Diese lässt sich auf ihre jahrhundertealte Geschichte zurückführen, gemäss welcher seit der Antike verschiedene Volksgruppen, Religionen und Herrschaften Spuren hinterlassen haben. Allerdings wurden zahlreiche Kulturgüter aus der frühen und jungen Geschichte Bosniens während kriegerischen Auseinandersetzungen vernichtet. Insbesondere die osmanische Herrschaft vom 14. – 19. Jh. übte einen grossen Einfluss auf die Kunst und Kultur aus. Ab 1887 wurde Bosnien von der Monarchie Österreich-Ungarn verwaltet. Von 1945 bis 1992 war Bosnien Teil der sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawiens. Zu den insgesamt 8 Teilstaaten gehörten Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien, Kosovo und Vojvodina. Mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der Teilstaaten brach Jugoslawien zu Beginn der 1990er zusammen. Es kam zu Bürgerkriegen. Der Bosnienkrieg brach um 1992 aus. Mit dem Daytoner Friedensabkommen wurde der Bosnienkrieg um 1995 beendet. Dieses schuf eine neue Staatsordnung, welches das Land in zwei Entitäten und drei Ethnien teilte. Das Daytoner Abkommen bildet bis heute die Verfassung des Landes.

Kulturpolitik und Kulturförderung
In der Republik Jugoslawien verfügte Bosnien über eine umfangreiche Kulturpolitik. Seit dem Bosnienkrieg und mit dem Daytoner Abkommen 1995 stellt die Kulturpolitik sämtliche Kulturschaffende vor prekäre Bedingungen: die chronische Unterfinanzierung, die ausschliessliche Finanzierung durch jährliche Projektbeiträge sowie die stark ethnozentrisch geführte Kulturpolitik bringen schwierige Herausforderungen für die ganze Kulturbranche mit sich.

Tagebuch 03.03.2020
Katedrala Srca Isusa. Die Kathedrale des Herzen ‚Jesus’. Der Treffpunkt, den ich mit ihm abgemacht habe. Auf seine Verspätung habe ich mich seelisch bereits eingestellt. Offenbar ist Pünktlichkeit eine Eigenschaft, die ich aus der Schweiz geerbt habe.

Interviewte Personen
Interviews mit Akteur*innen aus der kuratorischen und vermittlerischen Kunstpraxis, die in Selbstorganisationen tätig sind, bilden den Fokus der Arbeit. Weitere Gespräche mit Kulturschaffenden aus Sarajevo dienen der allgemeinen Wissensaneignung über die Kunst- und Kultursituation in Sarajevo.

Selbstorganisationen
Dobre Kote
Mittels partizipativer Projekte mit der breiten Bevölkerung engagiert sich Dobre Kote durch Aufräumaktionen, Urban Gardening und Wandmalereien, aber auch Events wie Kunstausstellungen, für die Wiederbelebung von heruntergekommenen öffentlichen Orten Sarajevos.

Obojena Klapa
Mit grossen Wandmalereien setzt sich Obojena Klapa für die Street Art Szene in Sarajevo bzw. Bosnien und die Förderung von Nachwuchskünstler*innen ein.

Kollektiv Kreaktiva
Das Kollektiv Kreaktiva führt vielfältige Kunstausstellungen, -events und partizipative Projekte wie Workshops in verschiedenen architektonischen und öffentlichen Räumen durch.

Odron
Das Kollektiv Odron verfügt über einen Raum, in dem es Ausstellungen und Veranstaltungen wie Konzerte, Jam-Sessions oder Artist Talks organisiert.

Galerija Brodac
Die Galerija Brodac fungiert als Ausstellungsraum und Atelier für junge Künstler*innen.

Rahmenbedingungen für Selbstorganisationen
Durch den kulturhistorischen und aktuellen Kontext Sarajevos bzw. ganz Bosniens sind die Kulturschaffenden mit prekären Gegebenheiten konfrontiert. Folgende drei Rahmenbedingungen erschienen in den Interviews besonders wichtig:

Generationenkonflikt
Der Generationenkonflikt beschreibt das Empfinden der jungen Kulturschaffenden, von einer «künstlerischen Elite» bestehend aus Kulturschaffenden älterer Generationen vernachlässigt zu werden. Diese Kunstelite hat im Gegensatz zu ihnen einen Zugang zu renommierten Ausstellungsräumen wie Museen und Galerien. Diese Ausstellungen zeigen den Interviewpersonen zufolge jedoch lediglich eine Reproduktion veralteter Ideen, anstatt neue, zeitgenössische Kunsttendenzen von jungen Kulturschaffenden zu fördern.

Publikum
Die Selbstorganisationen sind der Meinung, dass die Kunst und Kultur, die in grossen Kultureinrichtungen Sarajevos gezeigt wird, für ein breites Publikum nicht genug zugänglich ist. Deshalb bemühen sich die Selbstorganisationen mit verschiedenen Aktionen und Formaten diesen Zugang zu gewährleisten.

Kulturelle Bildung und Vermittlung
Um das fehlende breite Publikum zu erreichen, nutzen die Selbstorganisationen bildende und vermittlerische Strategien. Denn sie betrachten sich als bildende Instanzen, die eine Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen.

Unter welchen Rahmenbedingungen die Selbstorganisationen arbeiten und wie sie mit der aktuellen Situation umgehen, lässt sich in der Thesis eingehend erfahren. Die ganze Arbeit steht unter «Theoretische Thesis» zum Download bereit.

Vollständige Masterthesis, Nermina Šerifović, 2020

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